Religion, DeFi, Tulpenzwiebeln & M-Theory
Denken Sie ab und an darüber nach, was genau eigentlich Bitcoin ist? Ethereum? Polkadot?
Ich besitze diese Werte. Oder besser: ich besitze einen Schlüssel, der zu einem Schloss passt, bei dessen Betätigung ich mich auf der Blockchain als verfügungsberechtigt ausweisen kann. Das betrifft Assets in sehr überschaubarem Umfang. Nicht genug, um damit steinreich zu werden, aber doch so viel, dass ich motiviert bin, die Entwicklung der Szene mit mehr als nur intellektuellem Interesse zu verfolgen.
Ich weiß aber nicht, was Bitcoin ist.
Klar: ich habe eine (hi-level) Idee davon, wie er funktioniert. Ein großes Buch (Ledger) verteilt über viele Rechner (distributed) und unterteilt in Blöcke (Blocks), die über eine Prüfsumme miteinander verbunden sind (Chain), und zwar in der Weise, dass ein einzelner Block nicht geändert werden kann, weil dann auch alle nachfolgenden Blöcke geändert werden müssten. Und in diesem Buch ist verzeichnet, an welche Adresse durch welche Transaktion welcher Betrag an Bitcoin gesandt wurde.
Aber was bedeutet das?
Ich finde: das ist eine Frage wie die nach dem Sinn des Lebens. Es gibt keine vorgegebene Antwort, sondern nur das, was wir daraus machen. Und so funktioniert auch Bitcoin. Ein Eintrag im Ledger heißt nur das, was alle meinen, dass er bedeutet.
Satoshi Nakamoto wollte, wenn man seinem Whitepaper glaubt, das niemand gelesen hat, offenbar privates elektronische Geld schaffen. Daran ist er klar gescheitert, denn wenn Bitcoin etwas nicht ist, dann Geld. Man kann damit nämlich nicht zahlen und wird das auch nie können, weil das Netzwerk unterdimensioniert ist, und zwar so, dass ganze Größenordnungen fehlen.
Elektronisches Gold? Vielleicht schon eher. Aber dazu muss man sich darauf einigen, dass Bitcoin ein Wertspeicher ist. Es müssen viele Leute, vor allem solche mit tiefen Taschen, daran glauben, dass dem so sei. Es handelt sich also um eine Glaubensgemeinschaft. Aber auch eine Religion? An Gott kann man ja auch glauben, obwohl es ihn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gibt. Das funktioniert schon immer und hat richtig, echte, anfassbare Auswirkungen auf die Realwelt: Kirchen, Kriege, gute Taten, Terroristen, Mildtätigkeit, viel bedrucktes Papier etc. pp. Eine Religion kann also funktionieren. Und wie man an der heiligen Mutter Kirche sieht, durchaus über Jahrtausende. Papiergeld gibt es noch nicht so lange.
Andererseits beruht ein Schneeballsystem auch auf einer Art von Glauben. Dem Glauben nämlich, dass es jemanden geben wird, der mir meine Tulpenzwiebeln wieder abkaufen wird. Für Gold funktioniert das, obwohl es – entgegen der verrückten Idee der Goldfanatiker – natürlich auch keinen inhärenten Wert hat, sondern nur funktioniert, weil es eben schon immer so war. Für Tesla-Aktien wird es nicht lange gutgehen. Für Crypto-Assets weiß ich es nicht.
Was Bitcoin eher jedenfalls nicht ist: Revolution. Er ist natürlich technisch elegant. Aber auch ein wenig begrenzt. Er kann nicht wirklich viel, und er war ja auch eher der Crypto-Prototyp. Der Release Candidate. Die 0.9ß. Da gibt es spannendere Projekte. Etwa Ethereum mit der Möglichkeit, Smart Contracts auf seiner Blockchain auszuführen. Was das Ganze eher zu einer Programmiersprache macht. Der Jurist denkt daran, dass hier potentiell ein Werkzeug existiert, bei Verträgen Verpflichtung und Erfüllung in einem Zug zu erledigen. Wer sich um die Effizienz von Transaktionen sorgt, der könnte mögen, dass jede Menge Mittelsmänner wegfallen. Wer sich um Vertrauen Gedanken macht, der mag darauf verweisen, dass die Blockchain ziemlich unbestechlich ist, jedenfalls solange die NSA keine 51%-Attacke versucht und die Chinesen keine Quantencomputer entwickeln.
Nur: so richtig Zukunft ist auch Ethereum nicht. Zu langsam, zu eng. Vielleicht Ethereum 2.0, aber wann das (skalierbar) kommt? Da sind selbst die Macher eher wolkig und verweisen auf die mittlere Zukunft. Also vielleicht doch Polkadot. Oder einer der tausend anderen Coins. Jedenfalls die, die nicht gerade von der SEC verklagt werden, weil sie in Wirklichkeit Wertpapiere sind illegalerweise an Retail-Investoren gefloatet wurden. Willkommen in der wunderbaren Welt der langweiligen Vorschriften.
Womit wir bei regulatorischem Risiko sind. Die Idee, dass man Bitcoin – oder irgendein anderes Cryptoasset – nicht verbieten kann, ist natürlich absurd. Klar kann man. Vielleicht nicht die Blockchain als solche. Aber deren sinnvolle Anwendung. Den Tausch in Fiat-Währung. Wer die Banken reguliert, der reguliert auch BTC. Und wenn es bald keine Banken mehr geben wird, weil die Zentralbanken mit eigenem elektronischem Geld alles selbst machen (können), dann gilt das umso mehr. Dann aber nutzt der schönste Coin nichts mehr. Geld, also klassisches, ist mehr oder weniger vom Staat garantiert. Es ist, wenn es Fiat-Geld ist, kein gutes Geld, aber man kann seine Steuern damit bezahlen und darum akzeptiert der Bäcker es und der Metzger und der Rechtsanwalt. Ein Coin, den man nicht in Fiat tauschen kann, ist ein schönes Exponat für das Computermuseum.
Ah, Geld und Deine Aufbewahrung: nie wart ihr so spannend wie heute.
Aber was sehen wir da nun. Eine Revolution? Power (and money) to the People? Jeder ist seine eigene Bank und sein eigener Zahlungsdienstleister, decentralized Finance? Oder einfach nur ein Projekt, das technisch faszinierend ist aber in der echten Welt keine Chance auf Durchsetzung hat?
Vermutlich irgendetwas dazwischen.
In der Tat denke ich manchmal, die Crypto-Nerds sind monetäre M-Theoretiker. Wie eben die Verfechter der Stringtheorie. Elegant. Spannend. Calabi-Yau-Manigfalten in elf Dimensionen. So könnte das Universum auf unterster Ebene funktionieren, da wäre schön. Nur ist’s dem Universum egal, was die Physiker elegant finden. 40 Jahre und zwei Generationen der besten Gehirne der Wissenschaft sinnlos versenkt in einer (wahrscheinlich) nutzlosen wenn auch wunderschönen Theorie.
Aber dann sehe ich auch Linux und Windows. Das eine zentral verwaltet von einem großen Konzern und passend für das Büro in der hirarchisch organisierten Wirtschaft. Das andere sehr viel bastliger und wilder mit langen Haaren, Pizza und Red Bull – aber das ganze verdammte Internet läuft darauf, jeder Server, jede Anwendung. Es hat ein paar Jahrzehnte gedauert, aber die beiden Ökosysteme kommen mittlerweile ganz gut miteinander aus. Kann das eine Metapher, ein auf mindestens sieben Füßen hinkender Vergleich für private Cryptoprojekte sein?
Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Und wer sagt, dass er es weiß, ist Scharlatan oder nicht besonders hell oder – vermutlich – beides. Aber glauben darf man, jedenfalls auf Zeit. Denn solange die Sektenführer von Goldman Sachs, Grayscale und Blackrock kommen, und solange alle überzeugt sind, dass es funktioniert, wird es auch funktionieren. Ob das alles dann bald wieder vorüber ist, oder ob wir (also „wir“ als Gesellschaft, nicht Sie und ich) in 2.000 Jahren auf diesen Punkt als Zeitenwende zurückschauen werden, bleibt zu sehen.
Titelillustration (c) Alexander Limbach